Beschreibung:
Die nicht-invasive Beatmung mit einer Beatmungsmaske (nicht-invasive Beatmungstherapie) und die invasive Beatmungstherapie (Beatmung nach Luftröhrenschnitt, Tracheotomie) sind etablierte Behandlungsformen bei der ALS. Beide Therapieformen dienen der Verminderung von Symptomen der Atemanstrengung und der Verlängerung der Lebenszeit. Zur nicht-invasiven Beatmung ist im Jahr 2006 in eine Studie in Großbritannien durchgeführt worden, die einen Überlebensvorteil von 7 Monaten gezeigt hat. In Deutschland wurde bisher keine größere Studie zur Anwendungshäufigkeit und Wirksamkeit bezüglich des Überlebens durchgeführt. Aktuell wurde eine Studie aus der ALS-Ambulanz der Charité veröffentlicht, in der erstmalig die Beatmungstherapie in einer großen Untersuchungsgruppe und über einen langen Zeitraum analysiert wurde. Die Ergebnisse wurden in der neurologischen Fachzeitschrift „European Journal of Neurology“ publiziert.
In einem Zeitraum von 12 Jahren wurden 1.720 ALS-Patienten, die sich an der Charité in Behandlung befanden, hinsichtlich der Beatmungstherapie analysiert. 20,8 % der Patienten wurden mit einer Maskenbeatmung (nicht-invasive Beatmung) therapiert. Die nachgewiesene Anwendungshäufigkeit der Maskenbeatmung ist überraschend gering. Dabei sind mehrere Gründe für die geringe Häufigkeit der Maskenbeatmung anzunehmen: Bei Patienten mit einer Schwäche oder Spastik von Zunge und Schlund (Bulbärsyndrom), die bei mehr als der Hälfte aller Menschen mit ALS vorliegt, ist die Anpassung der Atemmaske schwierig oder methodisch nicht möglich. Ein weiterer Teil der Betroffenen empfindet die nächtliche Anwendung der Atemmaske als belastend und verzichtet, trotz des therapeutischen Vorteils, auf diese Behandlung (Therapiebegrenzung). Bei einer weiteren Patientengruppe ist die pflegerische Versorgung nicht ausreichend. Bei hochgradigen Lähmungen der Arme kann die Maske selbst nicht „bedient“ werden (Anlegen zur Nacht und Lageanpassung im Verlauf der nächtlichen Anwendung) und setzt die Unterstützung durch eine Pflegekraft voraus. Durch die Krankenkassen wird eine Behandlungspflege der Maskenbeatmung nur auf Antragsbasis realisiert und häufig abgelehnt. Die Untersuchungsergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit einer verbesserten pflegerischen Versorgung (Behandlungspflege gemäß SGB V), um einer größere Patientengruppe eine nächtliche Maskenbeatmung zu ermöglichen.
Die Untersuchungsergebnisse der Studie konnten zeigen, dass die nicht-invasive Beatmung mit einem Überlebensvorteil von 7 Monaten verbunden ist. Zu betonen ist, dass es sich dabei um einen statistischen Wert („Median“) handelt, der eine Aussage über die statistische „Mitte“ der Überlebenszeit macht. Andere statistische Parameter (Konfidenzintervall) Konnten zugleich zeigen, dass die Überlebenszeit sehr unterschiedlich war und sehr große individuelle Unterschiede aufwies. Tatsächlich reichte in der Untersuchungsgruppe die Überlebenszeit mit der Maskenbeatmung von wenigen Monaten bis zu mehreren Jahren.
Die invasive Beatmung (über Luftröhrenschnitt = Tracheostoma) wurde bei 9 % der ALS-Patienten an der Charité durchgeführt. Die Mehrheit der Patienten erhielten die invasive Beatmung ohne vorher mit einer Maskenbeatmung versorgt gewesen zu sein (primäre invasive Beatmung). Diese Konstellation entsteht, wenn eine Maskenbeatmung (z. B. durch ein Bulbärsyndrom) nicht möglich ist, und der Luftröhrenschnitt erforderlich wird, um eine Beatmungsversorgung zu ermöglichen. Bei der invasiven Beatmung betrug die mediane Lebenszeit 82 Monate (6 Jahre und 10 Monate) und war damit 48 Monate (4 Jahre) länger als in der Patientengruppe, die ohne Beatmungstherapie versorgt wurde (Median: 34 Monate). Die individuellen Unterschiede im Überleben mit invasiver Beatmung waren besonders groß: Dabei wurden Patienten mit einem Langzeitüberleben bis über 20 Jahre identifiziert.
Bei der Interpretation der Überlebensdaten bei der invasiven Beatmung, aber auch bei der Anwendung eine Beatmungsmaske (nicht-invasive Beatmung) ist zu betonen, dass Rückschlüsse von den statistischen Daten dieser Studie auf die Einzelperson nicht möglich sind. Die individuelle Prognoseabschätzung erfordert in jedem Fall die persönliche Beratung und Berücksichtigung mehrere prognostische Parameter (gegenwärtige Erkrankungsschwere, Progressionsrate, Atemkapazität, Hustenkraft, Körpergewicht, Biomarker NF‑L und zahlreiche andere Faktoren).
Insgesamt sind die Studienergebnisse von hoher Bedeutung, da erstmalig der Überlebensvorteil für die Beatmungstherapie bei der ALS in einem deutschen ALS-Zentrum dargestellt wurde. Bisher lagen nur wenige Daten aus Großbritannien und einzelnen anderen Ländern vor. Zugleich weist die relativ geringe Zahl der Patienten mit einer nicht-invasiven Beatmung auf eine Unterversorgung hin. Eine Ursache der geringen Anwendung der Maskenbeatmung liegt in der unzureichenden pflegerischen Unterstützung bei der Maskenbeatmung. Die Ergebnisse dieser Studie leisten einen wichtigen Beitrag, um diese strukturellen Defizite zu kommunizieren und zu verändern.
Die systematische Analyse der Beatmungstherapie ist über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr realisiert worden, an der eine Wissenschaftlerin, Study Nurses, ein Diplom-Informatiker und mehrere ALS-Experte beteiligt waren. Die mit der Studie verbunden Aufwendungen wurden über durch die Initiative „Hilfe für Menschen mit ALS“ und die Boris Canessa ALS Stiftung realisiert. Weiterhin wurde die Analyse durch medizinische Daten ermöglicht, die in der Ambulanzpartner-Registerstudie entstanden sind. Die Autoren der Publikation und das Team der ALS-Ambulanz danken der Unterstützung durch die „ALS-Initiative“, die Boris Canessa ALS Stiftung und Ambulanzpartner.
Autor: Thomas Meyer