Anwendungsstudie: Cannabis-Medikamente
Menschen mit ALS erfahren eine Muskelschwäche oder Spastik. So ist bei 40 % der Patientinnen und Patienten ist eine Spastik nachweisbar. Bei 63 % der Menschen mit ALS wird die Symptomatik als hochgradig eingestuft.
Diese Symptome stellen für die Betroffenen eine erhebliche Einschränkung dar.
Bei der ALS gibt es bisher keine zugelassenen Cannabishaltigen Medikamente. Cannabis-Medikamente sind jedoch seit 2011 zur Behandlung spastischer Symptome bei der Multiplen Sklerose (MS) zugelassen. Auf Grundlage der Wirksamkeit und Verfügbarkeit von Cannabishaltigen Medikamenten bei der MS werden diese zunehmend auch zur Spastik-Therapie bei Menschen mit ALS eingesetzt.
Zur Anwendung von Cannabis-Medikamenten bei der ALS liegen jedoch bisher nur wenige strukturierte Daten vor. Diese Anwendungsstudie dient daher der strukturierten Erfassung von Therapieerfahrungen zu Cannabishaltigen Medikamenten zur Behandlung der ALS-bedingten Spastik.
Ziel des Projektes
In der Anwendungsstudie soll erstmalig das Dosierungsverhalten und die Nutzererfahrung von ALS-Patientinnen und Patienten analysiert werden, die eine Spastik-Behandlung mit Cannabishaltiger Medikation (Tetrahydrocannabinol in Kombination mit Cannabidiol, THC:CBD) erhalten haben.
Durchführung und aktueller Status
Die Anwendungsstudie wurde bei ALS-Patienten und ‑Patientinnen an der ALS-Ambulanz der Charité – Universitätsmedizin Berlin durchgeführt. Die ersten Ergebnisse konnten bereits in der einer neurologischen Fachzeitschrift publiziert werden:
Meyer T, Funke A, Münch C, Kettemann D, Maier A, Walter B, Thomas A, Spittel S. Real world experience of patients with amyotrophic lateral sclerosis (ALS) in the treatment of spasticity using tetrahydrocannabinol:cannabidiol (THC:CBD). BMC Neurol. 2019;19:222. doi: 10.1186/s12883-019‑1443‑y.
Die Daten von 46 Patientinnen und Patienten wurden bisher analysiert. In der Studie wurde erstmalig untersucht, wie häufig pro Tag das Medikament eingenommen wurde, das in Form eines Mundsprays zum Einsatz kommt. Aus der Anzahl der Sprühstöße des THC:CBD Mundsprays pro Tag kann die verwendete Dosierung abgeleitet werden.
Im Mittel wurden 7 Sprühstöße pro Tag appliziert. 44 % der Befragten applizierten 1 bis 4 Sprühstöße pro Tag, während 22 % 5 bis 10 Sprühstöße anwendeten. Weitere 19 % nahmen mehr als 10 Sprühstöße pro Tag ein.
Die Zufriedenheit mit dem Medikament wurde durch Einsatz eines speziellen Fragebogens für Patientinnen und Patienten ermittelt. Der Fragebogen beinhaltete die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie das Medikament einem anderen Patienten weiterempfehlen würden. In den untersuchten Gruppen zeigte sich eine positive Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit (Net Promotor Score, NPS: +7). Ein NPS größer als Null wird allgemein als gut bewertet.
Bemerkenswert ist, dass Patientinnen und Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Spastik eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit hatten, das Cannabishaltige Medikament zu empfehlen (NPS: +29). Befragte mit einer leichten Spastik zeigten im Gegensatz eine negative Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit (NPS: ‑44).
Nutzen des Projektes
Nutzen für teilnehmende Patientinnen und Patienten
Für die Patienten stellen die Ergebnisse eine Unterstützung und Beförderung der neuen Behandlungsoption der Spastik mit Cannabishaltigen Medikamenten dar. Durch die Daten werden Gutachten-Anfragen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) besser begründet und damit die Wahrscheinlichkeit der Bewilligung einer Versorgung erhöht.
Nutzen für ALS-Zentren
Das ALS-Zentrum der Charité konnte seine palliativmedizinische Kompetenz um das Thema der Symptomkontrolle mit Cannabishaltigen Medikamenten erweitern. Mit der Studie konnte zudem der Status der wissenschaftlichen Meinungsbildung für die spätere Entwicklung neurologischer Leitlinien befördert werden. Die bisherigen Informationen zu Cannabishaltigen Medikamenten entstammten überwiegend der Schmerztherapie, unabhängig von der ALS oder der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose. Das Wissen um die geeignete Dosierung und die optimalen Anwendungsintervalle wurde durch die Anwendungsstudie deutlich verbessert.
Beitrag zum Fortschritt bei der ALS
Durch die Förderung konnte eine erstmalige Erhebung von Anwendungsdaten und Dosisempfehlungen für Cannabishaltige Medikamente bei der ALS in Deutschland realisiert werden. Die Ergebnisse zeigen, dass nicht alle ALS-Patientinnen und ‑Patienten von der Behandlung des Cannabishaltigen Medikaments profitieren, sondern in erster Linie Patientinnen und Patienten mit einer hochgradigen Spastik.
Mit dieser Studie kann die Entscheidungsfindung von hochspezialisierten Ärztinnen und Ärzten in der Behandlung von ALS-Erkrankten mit Cannabishaltigen Medikamenten verbessert werden.
Ausblick
In einer Fortführung und Erweiterung der Studie wird die THC:CBD-Therapie von Muskelkrämpfen, Schmerzen, Schlafstörungen und Appetitlosigkeit untersucht. Dabei sollen insbesondere neue Darreichungsformen (zum Beispiel mögliche Lösungen anstelle des Mundsprays) einbezogen werden. Geplant ist die Erhebung multizentrischer (Einbindung weiterer ALS-Zentren) Daten und deren vergleichende Analyse. In der Perspektive werden die Ergebnisse der Anwendungsstudie relevant sein, um die Behandlungsleitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) im Bereich der Spastik-Therapie bei der ALS weiterzuentwickeln.